Nasenschlüssel
[Annette Hans]
Alle suchen was. Ich auch. Den Schlüssel zu den Arbeiten von Anna Mieves. Anna hat geantwortet: Der sei ja Gott sei dank meistens in der Hosentasche. Es ist Winter, ich öffne also mit dem Schlüssel aus meiner Jacken(!)tasche die Tür und wechsle vom Außen- in den Innenraum. Es ist ein unhandlicher, sperriger Übergang.
weiterlesen +Handlicher, mir näher ist der Übergang zwischen „mit Jacke“ und „ohne Jacke“.
Im Folgenden wird es um Räume, um Körper, um Ereignisse und Erfahrungen gehen. Um ein Suchen, um Übertritte und Unterscheidungen und um Arbeit. Um spezifische Objekte, die Abformungen sind und im Zentrum der Ausstellung stehen. Dabei wird es auch um die Bewegung der Betrachter*innen im theatrum gehen, wie Mieves ihre Ausstellung in der Galerie in der Wassermühle Trittau betitelt hat, und darum, eine Geschichte zu erfinden und Fäden zu spinnen. So wie Robert Morris in seinem Text Das Präsens des Raums, der sich auseinandersetzt mit einer damals (in den 1970er Jahren) neu beginnenden skulpturalen Bestimmung des Verhältnisses von Objekt und Raum. Kunst ist hier prozesshaft, unmittelbar präsentische Erfahrung im Gegensatz zum Bild, zur Minimal Art oder der nachgeordneten Objektfotografie. Die räumliche Erfahrung und die wechselseitigen Ein- und Ausprägungen von Objekt und Raum lösen sich nicht in einen objektiven Standpunkt auf, sondern entwickeln in der Zeitlichkeit eine dialektische Erfahrung von Realität. Morris stellt seinem Text ein Zitat zum Schwert voran: Bevor es biegsam und hart zugleich sein konnte, indem harter Stahl über einen weichen Kern geschmiedet wurde, war es entweder weich und biegsam oder hart und bruchanfällig.(1) Bei Anna Mieves prägt sich diese Dialektik buchstäblich weiter ein.
Ausgehend von bestimmten Formen und Bildern, die sich in Anna Mieves’ Erinnerung eingeprägt haben, modelliert sie Positivformen. Sie sind ebenso wie die oftmals uneindeutig gewordenen abstrahierten Referenzen später nicht mehr ablesbar. Von ihnen entstehen verschieden komplizierte, mehrteilige Hohlformen. Mit Griffen versehen, erzählen sie von ihrem Handling, also dem Umgang mit ihnen, ihrer Modularität – kurz den Werkstattprozessen. Diese teils extrem glatt modellierten, manchmal noch Spuren ihrer Bearbeitung zeigenden Formen dienen dann der erneuten Abformung mit Leinen, Kunststoff oder verstärkten Baumwollfasern. Die Formen und Objekte bilden dabei eigene Räume aus und verhalten sich spätestens in der Ausstellungssituation wiederum zum sie umgebenden Raum, aber auch zu den sie beobachtenden und sie erfahrenden Betrachter*innen.
Armour hieß eine Ausstellung 2019 in der Wasserburg Sachsenhagen, in der unter anderem eine Art überdimensionierte Gamasche und in Seifenplatten gegossene Negativreliefs von Ausschnitten eines Renaissancemausoleums zu sehen waren. Das Material der Gamasche – Leinen und Hasenleim – erinnerte an die titelgebenden Leinenpanzer der Antike. Schichten von verleimtem Leinen umgaben den menschlichen Rumpf und passten sich aufgrund der Körperwärme perfekt an den Träger an. Als Abschirmung ist der Panzer Abdruck der Form Körper. Mieves’ Linothorax stabilisiert sich aus seinen formalen Bedingungen, aus den Knicken und Wölbungen und betrachtet das Kleidungsstück architektonisch. Der an der Gamasche fehlende Körper findet sich in den kleinen Negativreliefs umso präsenter wieder. Aus ihrem ursprünglichen Kontext entfernt und in ihrer Ausschnitthaftigkeit stehen hier nur die muskulösen Männerkörper mit ihren Hämmern bei der Arbeit im Vordergrund. Das Behauen repräsentiert eine Idee von handwerklichem, fast brachialem Arbeiten, das in der Seife wiederum filigran und durchscheinend sichtbar wird. Vielleicht an das Trennmittel beim Gipsabguss des Originals erinnernd ruft die Seife aber auch andere Zusammenhänge auf und es entsteht eine ambivalente Wechselwirkung zwischen Seife, Leinen und Körper. Gezeigt hat Anna Mieves die Glycerinseifenstücke zwar mit einer nach außen gerichteten Schauseite, aber dennoch allseitig ansichtig, sodass sie zugleich einen Wechsel des Standpunkts, eine Bewegung herausfordert zwischen den zwei Ansichten. Und zwar umso mehr, als die Schauseite plan war, durch die transluzente Seife hindurch aber den Blick auf das Positiv des Negativreliefs freigab.
Diese Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen ist im weitaus abstrakteren theatrum einerseits weniger und gleichzeitig umso mehr an Körper gebunden. Nehmen wir die „Hüte“ und ihre Hohlformen. Die an sich abstrakten Halbschalen mit ihren hutrandartigen Ausläufern steifen sich durch ihre Wölbungen aus. Eine logisch-physikalische Operation. Ihre gewölbte Seite ist durch das Pressen in die Form glatt, die andere, die Innenseite, erzählt von ihrem Material und ihrer Herstellung und ist weniger klar erfassbar. Es handelt sich um kein Gussverfahren, sondern um Baumwollfasern, eine Art textiles Pappmaché. Der Gedanke an Hüte (oder Helme) gründet also nicht nur in der Form, sondern auch in der Materialität des Textilen, das sich dem Körper mehr oder weniger gut anpasst. Es markiert ein Feld zwischen Innen und Außen, Körper und Umraum. Wenn manche der Hohlformen mit Griffen versehen sind, erinnert das einerseits - besonders in Verbindung mit dem Linothorax gedacht – an Schutzschilder und verweist andererseits auf die Bedeutung, die das Handling von Objekten in Anna Mieves Werk hat.
In der Ausstellung zu sehen sind auch die Gipsformen, in denen die gerade beschriebenen hutartigen Hohlformen entstanden sind. Diese zwei Arten von Objekten, die zwei verschiedenen Ordnungen angehören, zeigt Mieves als eigenständige Skulpturen nebeneinander. Sie bringt die verschiedenen, jedoch aufeinander bezogenen Formen auf eine gemeinsame Ebene und stellt das Prozedere der Herstellung aus. Das tut sie umso mehr, als unterschiedliche Formteile für, grob betrachtet, ein und dieselbe Hohlform zu sehen sind. So werden die Werkstattarbeit und die praktischen Bautätigkeiten, die Perfektionierung und die Serialität Teil des Ausgestellten und Teil einer Suche nach Wertigkeiten und Unterscheidungen. Mit ihnen verbunden sind aber auch räumliche Unterscheidungen: Die Formteile aus Gips sind einerseits Produktionsmittel, werden aber von Mieves andererseits auch verwendet als kleinformatige architektonische Elemente. Von nur einem Standpunkt aus sind ihre Gestalt und ihre Präsenz visuell nicht zu erfahren, weil die Gleichzeitigkeit des Innen und Außen, die Gleichzeitigkeit des Ein- und Ausprägens im Vordergrund stehen. Präsens und Präsenz sind körperliche Erfahrungen und Ereignisse.
Anna Mieves’ Formen sind gleichzeitig an- und abwesend. Sie werden – zumindest zeichenhaft – gleichzeitig produziert und präsentiert. Sie dehnen sich aus oder wölben sich ein und bleiben trotz ihrer formalen Geschlossenheit wandelbar. Ob sie als Innen- oder als Außenraum gesehen werden, hängt von den Beobachter*innen ab. Raum ist insofern kein definierter Ort, sondern etwas, das als Choreografie durch die Nutzer*innen geschieht. Das lateinische theatrum bedeutet nicht einfach nur Theater, sondern metaphorisch Schauplatz und metonymisch Publikum. Räumliche Konstellationen erscheinen bei Anna Mieves als erweitertes und auch dehnbares Feld, in dem Widerstände zwischen verschiedenen Kräften und Körpern abgeleitet und verschliffen werden. Am sinnbildlichsten geschieht dies in der Serie der Spoiler, deren ursprüngliche Formgeber auf Lkw-Dächern genau diese Aufgabe übernehmen und zwischen den einzelnen (Funktions-)Teilen, der in Bewegung versetzten Masse und dem Luftwiderstand vermitteln. Dies geschieht aber auch in der praktisch- technischen „Bautätigkeit“ der Gipsformen und den verschiedenen Hohlformen, die sich unter eine abstrakte Erzählung von textilen Abschirmungen fassen lassen. In diesen Konstellationen wechselseitiger Bezugnahmen agieren die Objekte und die Körper als Mittler*innen zwischen den Dingen und den Bedingungen.
Mieves’ Arbeiten bilden formal buchstäblich Nischen für sich immer wieder umkehrende logische Operationen der Sinnkonstitution. Die Nische kann sowohl schützen als auch (oder gerade deswegen) zeigen. Sie markiert ein Innen und ein Außen, wie auch die Wand es kann, jedoch ein bisschen komplizierter und insofern verbunden mit einer Ent- und Unterscheidung der Betrachter*innen in Hinblick darauf, wie man die Nische erleben will. Damit nehmen Mieves’ Formen Bezug auf jene Ambivalenz, die auch Morris nachzuverfolgen sucht.
Und zwar indem sie den Architekturkörper ebenso wie den produzierenden und den nutzenden Körper als solchen immer wieder mit einschreibt und in unterschiedlichen Konstellationen von innen nach außen, von außen nach innen sucht, wiederholt, sucht und wiederholt. Ein perfektes Bild dafür hat sie vielleicht in den Wildschweinnasen gefunden, die sich bei der Futtersuche im Erdreich gleichsam selbst abdrücken, weil sie sich vorarbeiten, innehalten und wieder zurückziehen und dabei einen kurzen Moment der Eindeutigkeit schaffen.
(1) Robert Morris, Das Präsens des Raums, In: Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Hg. von Susanne Titz und Clemens Krümmel, Zürich / Dijon 2010.
Annette Hans ist Kuratorin und lebt in Hamburg.